Montag, 14. September 2020

Der Wind in Rilkes Sonetten (und Edgar Wind)

 

Rilke, Sonette an Orpheus:

 

„Gesang wie du ihn lehrst ist nicht Begehr, nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes. Gesang ist Dasein. Für den Gott ein leichtes. Wann aber sind wir? Und wann wendet er an unser Sein die Erde und die Sterne? Dies ists nicht Jüngling, dass du liebst, wenn auch die Stimme dann den Mund dir aufstößt, lerne vergessen, dass du aufsangst, das verrinnt.

In Wahrheit singen ist ein anderer Hauch, ein Hauch um nichts, ein Wehn im Gott, ein Wind.“

 

„Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon innen in mir? Manche Winde sind wie mein Sohn.  

Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?“

 

Rilke fasst in den Sonetten den Zusammenhang von Atem und Wind bzw. dem gesamten Luftraum auf eine Weise, die mich an Edgar Winds Bestimmung von Metaphysik erinnert. Metaphysik versucht, das Ganze zu fassen, also dasjenige, das mit Physik und Wissenschaft nicht zu erfassen ist. Als endliche Wesen können wir nur Teilaspekte der Welt erkennen. Doch müssen wir für diese Erkenntnisleistung immer das Ganze als den großen und strukturierten Zusammenhang mitdenken und seine Existenz voraussetzen. „Manche Winde sind wie mein Sohn.“ 

Atmend haben wir Anteil an diesem großen Zusammenhang der Winde und der Luft als dem All des Lebensraumes. Wir stellen diesen Zusammenhang mit jedem Atemzug neu her. Doch aus der Perspektive der Winde ist unser Anteil an dem großen Ganzen winzig klein. Zugleich verbindet uns diese atmende Anteilnahme mit allen Menschen und sogar allen anderen atmenden Lebewesen, die auf gleiche Weise in das große Ganze eingebunden sind wie wir. Der große Luftraum umfasst aber noch viel mehr als die atmenden Wesen. Er ist uns präsent im Modus der Unverfügbarkeit. Die Form dieses Luftraumes ist der Wind als formgebendes Prinzip. Der Luftraum ordnet sich in Winde. In diesem Sinn ist der Wind Gegenstand der Metaphysik und nicht nur der Meteorologie.

Atmen ist so betrachtet eine metaphysische Tätigkeit. Wobei sich atmend Machen und Geschehenlassen so wenig trennen lassen wie in einer atmenden Metaphysik Theorie und Praxis wieder zusammenfinden dürfen.

Die erste menschliche Form, in der sich die metaphysische Verbundenheit mit dem Wind offenbart ist der Gesang, die Stimme, die die Luft in Bewegung bringt.

 


 

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